Im Folgenden beschreibe ich meine Erfahrungen einer Motorradfahrt nahe der subjektiven Perfektion. Ich vermeide dabei die Erwähnung beiläufiger Sinneswahrnehmungen, da mich hier einzig der fundamentale Wandel des Erlebens meiner Existenz als Motorradfahrer und meine Verschiebung zur Welt „da draussen“ – weit über den Flow hinaus – interessiert. Ich kann mich dabei selbstredlich nur auf meine Selbstbeobachtung während weniger Momente zurückbeziehen. 4 Qualitäten wurden mir dabei offenbart. Diese (verkürzten) Beschreibungen beruhen klarerweise auf vorgefassten Meinungen und Einstellungen jedes einzelnen Motorradfahrers.
1
Die Verlangsamung der Zeit
Die erste Qualität ist die Verlangsamung der Zeit. Während meiner Fahrt konzentriert sich die Gegenwart in einem einzigen Punkt. Das Gestern und das Morgen verlieren ihr Gewicht. Pathologische Sorge um das Vergangene und das Zukünftige verschwindet hinter der Erkenntnis, dass der Scheitelpunkt des Lebens das „Hier und Jetzt“ darstellt.
In diesen seltenen kostbaren Momenten während meiner Fahrt fliesst eine zeitlose Entspannung durch mein neuronales Netzwerk.
Allen Warnungen zwanghafter Apostel entgegen, führt dieser Zustand zu Leichtsinn, fehlender Vorausschau und Unfähigkeit meiner Versicherung. Aus diesem Grund ist Motorradfahren jenes Korrektiv, das unsere Kultur so dringend benötigt. Niemand ist nutzloser als ein „erfolgreicher“ Manager oder Angestellter, der sein ganzes Leben – von hektischer Arbeit getrieben – die Aussicht auf eine zukünftige Rente mit 65 pflegt, exakt für jenen Tag des Jüngsten Gerichts, an dem es bereits zu spät und das Leben vergangen ist. Nur diejenigen, die eine Lebenskunst kultivieren, welche durch und durch in der Gegenwart Ausdruck findet, werden den einzigen Augenblick einfangen, in dem das Leben urplötzlich erscheint.
Zu viel strategische Voraussicht meinerseits zerstört all ihrer eigenen Vorteile, denn das Glas Antizipation an der Theke der Zukunft kaufe ich mir zum Preis der Angst. Diese Angst angelt immer nach meinen Verlusten in kommenden Zeiten (während Trübsinn und Depression immer nach Verlusten in der Vergangenheit fischt).
2
Die Bewusstheit der Polarität
Ich nenne die zweite Qualität die Bewusstheit der Polarität. Im Sattel schwebend streift mich plötzliche Erkenntnis, dass unsere Natur, die Dinge und Ereignisse – die ich üblicherweise gegensätzlich erfahre – voneinander abhängig sind. Während der vollkommenen Motorradfahrt inmitten dieses polaren Bewusstseins sehe ich die Dinge, die ich im Alltag als getrennt betrachte, nun als eine einzige Einheit: Selbst und Andere, Subjekt und Objekt, links und rechts, Frau und Mann, Heiliger und Sünder, Polizei und Krimineller – beide Pole verschmelzen ineinander.
Je mehr sich die Fahrt am Motorrad meiner internen Vollkommenheit nähert, desto intensiver erlebe ich dieses polare Bewusstsein. Ich fühle nun, dass ich nur in Abhängigkeit der Umgebung, des Motorrads, der Piste und des Universums existiere. Das eine bedingt das andere. Der Druck auf das eine Ende meines Lenkers ist zugleich der Zug am anderen und der Zug an einem Ende ist mein Druck am Anderen. Drücken oder Ziehen – beides ist eins.
In diesem Moment lenkt mich das Universum, im selben Augenblick erkenne ich, wie ich das Universum lenke. Ich weiss, dass ich das Schicksal lenke, so wie auch ich vom Schicksal gelenkt werde. Jedoch wenn das Schicksal mich lenkt, wie kann ich wissen, dass ich in den nächsten 2 Sekunden mich weiterhin auf der Strasse befinde?
Diese Empfindungen verwirren und terrorisieren mich. Ich muss diesen Monstern und Engeln ohne Angst begegnen, um Ihnen Herr zu werden.
3
Gefühl der Relativität und Bedingtheit
Die dritte Qualität – welche aus der 2.Qualität entspringt, ist das Gefühl der Relativität und Bedingtheit. Ich erkenne, dass ich ein Kettenglied in der unendlichen Hierarchie aller Wesen bin – von Molekülen zu Bakterien und Insekten zu Motorradfahrern, Engeln und Göttern. Ich sehe mich als Wurm, denn wie der Wurm befinde ich mich im Zentrum meiner Welt – mit vielen Dingen die grösser und vielen Dingen die kleiner sind als ich.
Von diesem Punkt sind es nur wenige Kupplungsvorgänge zu meiner Erkenntnis, dass jede Form des Lebens eine einfache Variation eines einzelnen Themas ist: Ich bin Teil der Motorradschaft und somit Motorradschaft selbst. Somit löst sich mein Ego in der Suppe aller Motorradfahrer, aller Würmer, Moleküle und Götter auf. So wie meine Netzhaut unzählige Energieimpulse als ein einziges Licht erkennt, so erscheinen mir unzählige Individuen als ein einziges Selbst. Wir alle fahren genau dieselbe Strecke, nur in unterschiedlicher Art und Weise – ich, der Wurm, der Motorradfahrer, Gott.
4
Bewusstsein der ewigen Existenz
Die vierte Qualität ist das Bewusstsein der ewigen Existenz. Es fühlt sich wie Wahn oder Verblendung an, aber hat am Gas erlebe ich alle Existenz als eine einzige Energie. Diese Energie ist mein eigenes Dasein. Ich spüre wechselweise den Tod und das Leben. Energie pulsiert. Wie alle ozeanischen Wellen Berge und Täler beinhalten, so muss die Erfahrung meines Daseins „AN“ und „AUS“ gehen. Deshalb habe ich keinen Grund mich um den Tod zu sorgen, denn ich bin die ewige Energie des Universums. Da wo mir der Tod lachhaft erscheint, ist der Verlust meines Egos nicht existent.
* * *
Ich habe diese 4 Qualitäten an der Grenze meiner subjektiven Perfektion wahrgenommen und versucht diese zu beschreiben. Manche Menschen werden sagen: „Oh, das ist aber sehr banal und offensichtlich. Niemand braucht das Motorradfahren, um dies zu sehen.“ In diesem Punkt haben Sie recht, nichtsdestotrotz hat jede Selbsterfahrung einen Grad an Intensität, die ich durch Motorradfahren steigern kann.
Hallo Dieter. Sehr schön geschrieben, chapeau!
Bei diesem Satz (den ich sofort unterschreiben würde): „Aus diesem Grund ist Motorradfahren jenes Korrektiv, das unsere Kultur so dringend benötigt. “ musste ich sofort an ein Zitat von Robert Hughes denken: „Das Motorrad ist ein Zaubermittel gegen den Massenmenschen.“
Aber mein Lieblingssatz in Deinem obigen Text ist dieser: „denn das Glas Antizipation an der Theke der Zukunft kaufe ich mir zum Preis der Angst“ – wunderbar, und keineswegs banal, danke dafür!
Ach ja, und danke auch für Dein freundliches Lob meines Buches in einem früheren Beitrag!
LG, Achim